(Karl Heinz Roth / Florian Schmaltz)

Im Vorjahr hatten die beiden Projektmitarbeiter vereinbart, eine biographische Studie über Hans Deichmann in ihr Vorhaben zu integrieren (vgl. den SfS-Tätigkeitsbericht 2011, S. 5 ff.) und ihr erste Priorität zu geben. Um das Terrain zu sondieren, führte Karl Heinz Roth im Januar 2012 im Rahmen einer Italienreise mehrere Interviews mit ZeitzeugInnen durch. Sie erwiesen sich als außerordentlich ergiebig. In Inverigo berichtete die 92-jährige Ursula Bandera, die 1942 als Dolmetscherin zum Italien-Büro des Generalbevollmächtigten für Sonderfragen der Chemischen Erzeugung dienstverpflichtet worden war, über die Kontakte Deichmanns mit den Alliierten und seine Aktivitäten zur Unterstützung der Resistenza. In einem zweistündigen Interview gaben Graziella Mori und Teresa Luiziz, ehemalige Chefsekretärinnen des SASEA-Verwaltungsratspräsidenten Deichmann, ihre Erinnerungen an die bis 1949 bzw. 1955 zurückreichende Tätigkeit im mailändischen Chemie-Großhandelsunternehmen zu Protokoll. Mathias Deichmann und Maria Lauper ergänzten diese mündlichen Überlieferungen durch wichtige Mitteilungen über das Wirken ihres Vaters seit den 1970er Jahren. Darüber hinaus stellte Mathias Deichmann den Transfer des schriftlichen Nachlasses nach Bremen in Aussicht; im Dezember kam die Sendung in fünf Umzugskartons an und konnte im Stiftungsarchiv aufgestellt werden. Die dadurch immens verdichtete Informationsbasis führte zur Bekräftigung der Entscheidung, die biographische Studie vorzuziehen und die dafür erforderlichen archivalischen Recherchen zu intensivieren.

Parallel dazu liefen die Bemühungen um die Erschließung der weltweit zerstreuten Überlieferungen zum I.G. Farben Werk Auschwitz weiter. Imke Hansen setzte ihre Recherche in den polnischen Archiven fort und machte es den Projektmitarbeitern möglich, weitere wichtige Teilbestände zu lokalisieren. Dabei stellte sich schließlich heraus, dass sich die meisten – möglicherweise sogar alle - Unterlagen dazu in den Dokumentensammlungen des Internationalen Suchdiensts (IST) Arolsen sowie in den sogenannten Bestandsergänzungsfilmen reproduziert sind, die das Bundesarchiv nach dem DDR-Anschluss vom früheren Zentralen Staatsarchiv Potsdam übernommen hatte. Damit waren die Zielsetzungen der letzten Recherche-Etappe des seit 25 Jahren betrieben Forschungsprojekts I.G. Auschwitz vorgegeben: Sieht man von den neu hinzu gekommenen Quellenfragen der Deichmann-Biographie ab, so konnten sie jetzt im Wesentlichen auf zwei entscheidende Schwerpunkte konzentriert werden. 

Im Rahmen dieser neuen Schwerpunktbildung brachte Florian Schmaltz im Sommer in 2012 Erfahrung, dass das Bundesarchiv die Vernichtung der insgesamt etwa  2.700 Bestandsergänzungsfilme mitsamt der dazu gehörigen Erschließungskarttei plante. Als Begründung wurde angegeben, die in den Mikrofilmen erfassten Bestände könnten inzwischen in den allgemein zugänglichen osteuropäischen Archiven im Original eingesehen werden. Wie ein Abgleich der Kartei mit unseren eigenen Datensammlungen ergab, war diese Argumentation teilweise unzutreffend. Wir ersuchten deshalb das Bundesarchiv, die etwa 600 für unser Projekt wichtigen Mikrofilme und die Kartei von der Vernichtungsaktion auszunehmen und unserem Stiftungsarchiv zu überlassen. Dieser Antrag wurde leider abgelehnt. Dagegen erbrachten die Erkundungen über das ITS Arolsen positive Ergebnisse. Bislang war das dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz unterstellte Archiv der historischen Forschung verssperrt gewesen. Dieser Zustand hatte sich inzwischen geändert, und damit rückte das Ende der zermürbenden Suche nach den uns sehr wohl bekannten, aber bislang unzugänglich gebliebenen Überlieferungen der polnischen und post-sowjetischen Archive in Reichweite.

Ende Oktober 2012 trafen sich Schmaltz und Roth zu einer zweitägigen Arbeitsbesprechung. Sie verabschiedeten eine aus 22 Positionen bestehende abschließende Suchliste, in die auch die für die Deichmann-Biographie zu konsultierenden Provenienzen integriert sind. Sie soll im kommenden Jahr im Rahmen einer gemeinsamen Archiviere so weit wie möglich abgearbeitet werden, und zwar mit den Prioritäten ITS Arolsen und Deichmann-Biographie. Zudem wurden Überlegungen darüber angestellt, wie öffentlicher Druck zur Verhinderung der Vernichtung der Bestandsergänzungsfilme ausgeübt werden könnte. Erstmalig wurde auch eine konkrete Zeitplanung vereinbart, die allerdings die von Jörg Wollenberg vorgeschlagene Fallstudie „Fürstengrube“ ausklammerte, weil noch keine Projektskizze dazu vorliegt (vgl. dazu den Tätigkeitsbericht 2011, S. 7). Mit der Niederschrift der Deichmann-Biographie wird Roth noch im Jahr 2013 beginnen. Für die Erarbeitung der dreibändigen Studie zur Geschichte des I.G. Farben-Werks Auschwitz – Vorgeschichte, Geschichte und Nachwehen-  hat sich Karl Heinz Roth die Jahre 2016 bis 2018 reserviert. Wenn es die berufliche Perspektive zulässt, wird Florian Schmaltz in dieser Zeit zu gleichen Teilen mitwirken. Danach soll das bislang längste und aufwändigste Forschungsprojekt der Stiftung für Sozialgeschichte durch die Edition der Wochen- und Bauberichte der I.G. Auschwitz abgeschlossen werden. 

 

 

Bisherige Publikationen:

Karl Heinz Roth / Florian Schmaltz: Beiträge zur Geschichte der I.G. Farbenindustrie AG, der Interessengemeinschaft Auschwitz und des Konzentrationslagers Monowitz, Bremen: Privatdruck der Stiftung für Sozialgeschichte, 2009
Download des Privatdrucks als PDF-Datei.

Siehe auch die Beiträge von Karl Heinz Roth und Florian Schmalz im Nobert Wollheim Memorial Portal: http://www.wollheim-memorial.de/de/home

 

Aktueller Schwerpunkt:

Das Armageddon der deutschen Industrie: Kleine Geschichte der I.G. Farben (Karl Heinz Roth)

Interessengemeinschaft Auschwitz: Vorgeschichte - Baugeschichte und Zwangsarbeit im internationalen Vergleich - Nachwehen (Florian Schmaltz und Karl Heinz Roth)