Eckhard Kanzow
Kommentar zu "Vergessene Aktionen" von Helmut Kahlert
Das was ich als Beteiligter der damaligen Bewegung (Bewegender und Bewegter) der Studenten der Ingenieur- und Höheren Fachschulen erlebt, erfahren und gelernt habe, hat mich für mein ganzes folgendes Leben geprägt: politisch, sozial, ethisch, moralisch, spirituell. Dieser Erfahrungsprozess macht einen unverzichtbar wichtigen Teil meiner Identität aus. Vielleicht besonders deshalb, weil dieser Prozess nicht geendet hat. Damit ergibt sich durch das damalige Erleben eine qualitative Dynamik, die eine lediglich retrospektivische Betrachtung/Bewertung des damaligen Geschehens verbietet. Ich weiß, daß ich mit dieser Sicht nicht allein bin. Für viele Tausende von uns war unsere Bewegung eine befreiende, radikale Wende in unserem Leben, im doppelten Sinne, als Wende radikal und das weitere Leben radikal verändernd. Eine ganze Generation von potentiellen Ingenieuren wurde für die ihnen zugedachte qualitative Nutzung in der Industrie unbrauchbar; oder statistisch rezudierend gesagt, der Industrie wurden viele tausend Ingenieure entzogen. In manchen Regionen ergriffen mehr als die Hälfte der Studenten bzw. Absolventen die erkämpfte Möglichkeit zum Wechsel an die Universität zum Beispiel ins Gewerbelehrerstudium mit dem Äquivalent des Vordiploms oder mit der neuen Hochschulreife in ganz andere Studiengänge. Viele gaben die Ingenieurausbildung auch ganz auf. Doch es wäre endgültig reduktionistisch, diese quantitativen "Phänomene" ihres qualitativen Aspektes zu berauben. Überall, wo diese Berufsflüchtlinge hingingen, sie brachten ihre starken Erfahrungen mit, ob als Gewerbelehrer, als Sozialwissenschaftler, als Entwicklungshelfer oder auch in den folgenden sozialen Bewegungen, nicht zuletzt in den Gewerkschaften. Zudem können Ingenieure mit dem "falschen" politischen Wissen und dem gestärkten Selbstbewußtsein und den erworbenen Kampferfahrungen zu Risikofaktoren für künftige industrielle Konflikte werden, wie an den marginalen (?) Erfahrungen über die partielle Verquickung zwischen den Septemberstreiks 1969 und den jobbenden bzw. streikenden Ingenieurstudenten (unbefristeter Generalstreik) spätestens zu sehen war. Risikofaktoren statt Garanten des reibungslosen industriellen Ablaufes in einer boomenden Wirtschaft...Mit Sicherheit größere Risiko- und Störfaktoren als etwa Flugblattverteiler aus den verschiedenen Gruppenansätzen angehender Akademiker vor den Fabriktoren zu Schichtwechsel. Wie anders wäre zu interpretieren, daß während des zweiten (unbefristeten) Generalstreiks, dessen Beschluss in einigen Bundesländern von den sechsten (= Examens-) Semstern separat zum "Rest" der Studentenschaft mit satter Zweidrittelmehrheit gefasst wurde, eine konzertierte Gegenaktion der Bundesregierung versucht wurde: rückgestellte Wehrpflichtige wurden eingezogen, Empfängern von Stipendien der großen Organisationen des Öffentlichen Dienstes (Post, Bahn, Militär z.B.) wurden diese ausgesetzt und ihre Streichung angedroht bis hin zu vielfältigen Versuchen, direkte paramilitärische Restriktionen zum Einsatz zu bringen.
Um was es ging: Die damaligen Ingenieurschulen waren Kreationen des militärisch-industriellen Komplexes, wobei sich der Akzent deutlich in Richtung Industrie verschoben hatte. Obwohl aus Organisations- und Finanzierungsgründen "verstaatlicht", waren und blieben sie stets unter der eindeutigen Kontrolle und Steuerung der Industrie und ihrer Organisationen: Konzeption, Lehr- und Lernformen, Inhalte, Prüfungsschemata, Labore, Dozenten, praktisch alles... Als 'Anstalten des öffentlichen Rechtes' waren sie der Fachaufsicht der förderativen Kultusministerien unterstellt. Das bedeutete praktisch, nichts Wesentliches bestimmen bzw. gestalten zu können. Manche Ingenieurschulen funktionierten zumindest in einigen Fachbereichen als Selbstbedienungsläden von bestimmten Konzernen, nicht nur bei der Absolventenrekrutierung. Die Industrie (inklusive der staatlichen Organisationen wie Post und Bahn) hatten sich hier pseudostaatlich organisierte Ausbildungs- und Drillstätten zur Anzucht derjenigen Vorgesetzten geschaffen, die in Betrieben die meisten direkten Untergebenen hatten und nicht nur deshalb Schlüsselfunktionen zur reibungslosen Organisation des industriellen Verwertungsprozesses besetzen sollten. Der Schwerpunkt des 'Berufsbildes' lag deshalb darauf, mit von anderen fabrizierten Rezepten vorgegebene Probleme in vorgegebener Zeit und Qualität zu 'lösen'. Entsprechend war die Stellung der ISn 'eigenständig' usw., wie unschwer aus dem kultusministeriellen Vereinheitlichungsbeschluss von '64 zu erkennen ist: "Die ISn sind eigenständige Einrichtungen des deutschen Bildungswesens. Sie vermitteln eine, auf wissenschaftlicher Grundlage beruhende, höhere technische Bildung, die zu selbstständiger Tätigkeit als praktischer Ingenieur befähigt." Praktisch waren die ISn reine Konditionierungs- und Paukbetriebe. Lehrinhalte und Fachrichtungen waren nur von einem bedingten Interesse. Eine Substitutionsanalyse des IAB von damals erbrachte, daß bestensfalls ein Drittel der Absolventen in derjenigen Fachrichtung beruflich tätig wurde, für die sie formal ausgebildet worden waren. Die ISn waren gegenüber dem Rest des Bildungswesens scharf abgegrenzt nach allen Seiten, eben "eigenständig". Übergänge - welcher Art auch immer - zu Universitäten usw waren überhaupt nicht vorgesehen. Etwas mehr als die Hälfte der damaligen Studierenden, besser "Ingenieurschüler", kamen über den Volksschulabschluss mit einem zusätzlichen berufspraktischen Abschluss (i.d.R. 3 1/2 Jahre) und einer zusätzlich, parallel zu einer beruflichen Tätigkeit über mehrere Jahre Abendschule zu erwerbenden 'Fachschulreife'; weitere ca 40% der Studierenden kamen mit Mittlerer Reife und zusätzlich einem zweijährigen, industriell gelenkten Praktikum, das einer verkürzten Lehre sehr ähnlich war und in dieser Eigenschaft auch vermittelt wurde ("die Herren Praktikanten sollen sich ja nicht einbilden..."), das aber auch einer militärischen Grundausbildung häufig sehr ähnelte, wenn die Praktikanten in der Lehrwerkstatt neben den 14jährigen Lehrlingen standen, denen man noch Holzklötze unter die Füsse setzen musste, damit sie an die Schraubstöcke kamen, um dort sehr lange Wochen mit halbstumpfen Armfeilen U-Eisen zu feilen. Hatten sich die künftigen Ingenieurschüler insoweit die Eingangsvoraussetzungen für die IS erdient und zusammengeprüft und dachten oder hofften sie vielleicht, jetzt hätten sie es geschafft, durften sie sich einer Eingangsprüfung durch eben diese IS unterwerfen. Diese Prüfungsmanie setzte sich dann durch den gesamten weiteren 'Werdegang' fort und bildete das Rückgrat der Ausbildung: jedes Semester gegen Ende gab es ein Stakkato von Klausuren, den sog. Semestralen, von deren Bestehen die Versetzung ins nächste Semester abhing; Nichtbestehen hieß Wiederholung oder Rausschmiss. Ein damaliger Gewerkschaftsfunktionär nannte diesen 'praktisch orientierten', 'bewährten' Ausbildungstyp "Kadettenanstalten". Leider gibt es keine Statistik über die Selbstmordrate von Ingenieurschülern, mir sind jedoch viele Fälle bekannt...
Der "bewährte seminaristische Unterrichtsstil" war einfacher Frontalunterricht in Klassenzimmern mit festen Sitzplätzen und Anwesendheitskontrollen durch Dozenten, die ihre Vorlesungsskripte hüteten wie ihe Augäpfel. D.h. der für die Prüfungen zu paukende 'Stoff' ging durch den Filter eigener Mitschriften. Zu diesem unmenschlichen Leistungsdruck kam ein ebensolcher Zeitdruck; eine Regelwoche von 80 Aufwandsstunden war normal. Klar, daß diese Menschen nicht auf "dumme Gedanken kamen". Damit nicht genug, schlossen zumindest die Hauptabnehmer der Absolventen eigene mehrjährige Ausbildungsphasen an, bis die Ingenieure dann tatsächlich berufstätig werden konnten. Die Rückzahlungspflicht abnehmerspezifischer Stipendien erlosch i.d.R. erst nach fünf Jahren 'eigenständiger Berufstätigkeit'. Ein engerer Sackgassen- und Einbahnstrassencharakter ist kaum vorstellbar.
Als die ESG 1965 begann, in einer eigenen Studienkommission aus Studenten, Dozenten (Herr Kahlert war einer von ihnen)und Studentenpfarrern dieses Ausbildungssystem zu analysieren, beliebte Festschreibungen und gebetsmühlenähnliche Glaubensätze von "Eigenständigkeiten" und "Bewährtheiten" zu entlarven, eigene Vorstellungen in Richtung nicht nur bildungspolitischer Reformen sondern u.a. auch didaktischer Umgestaltungen zu entwickeln und insbesondere der nicht wirklich begründbaren Unmenschlichkeit der Ausbildung Namen und unabweisbare Überlegungen zu ihrer Veränderung zu geben, schlugen diese Bemühungen nicht nur im Verbändedschungel und bei den offiziell zuständigen Kultusbehörden wie eine Bombe ein. Gleichzeitig wurden sie ziemlich systematisch - zunächst über die Strukturen der Studentenorganisationen (insbesondere ESG und SVI), später zunehmend direkt - denjenigen vermittelt, die die eigentlichen Betroffenen dieses Systems waren, den Studierenden. Die Unerträglichkeiten und naheliegende Alternativen bekamen Stimme, Sprache und Argumente, wurden aneignungsfähig und zu selbstbestimmbarem und sich verselbständigendem Arbeits-, Denk- und Handlungspotential. Wenn irgendjemand aus hier nicht hinterfragten Gründen meinen zu müssen glaubte, die Folgeereignisse seien Frucht einiger weniger (ideologischen) Demagogen und Rädelsführer, so mag es an dieser Stelle genügen, darauf zu verweisen, daß sämtliche Strukturen, Funktionsträger und Vertretungen nicht nur der Studentenschaft von unten und durch freie Wahlen ausgetauscht, abgewählt und demokratisiert wurden. In einem mehrjährigen Prozess wurden sämtliche Korruptionsstrukturen in der Studentenschaft weggefetzt. Die sich entwickelnden Argumente und Alternativüberlegungen zur Gestaltung einer künftigen Bildung waren soweit von dern Basis getragen und angeeignet, daß sie auch das Gesprächs- und Verhandlungsmaraton der ersten Phase schadlos überlebten und sich ständig weiterentwickelten. Jene Phase nämlich, als mit praktisch allen Verbänden, Landtagsparteien, Kultusbürokratien und Bildungspolitikern argumentiert und verhandelt wurde, oft genug noch von den alten Funktionären, die immer häufiger ein imperatives Mandat für die Verhandlungen bekamen und darin von der Masse ihrer Studenten kontrolliert wurden. Solche Verhandlungen endeten häufig mit mehr oder minder entgegenkommenden Zusagen, die dann später stets zurückgenommen, verraten oder konterkariert worden sind. Das System dahinter, die industriellen Interessenträger wollten sich keinen Millimeter bewegen und den bewährten Zementklotz Ingenieurausbildung unangetastet lassen. Sicherlich lag in dieser Erfahrung eine der wichtigsten Wurzeln für die radikalisierende Entfaltung der eigentlichen Bewegung. Das, was die entstehende Bewegung bewegte, waren verstandene, teils selbst entwickelte und die eigene unerträgliche Situation radikal aufhebende Gedanken, Inhalte und natürlich auch Forderungen, die stets von der überwiegenden Mehrheit der Betroffenen selbst entschieden wurden: prinzipiell gleichrangige Eingangsvoraussetzungen zu einem Studium im Hochschulbereich, das horizontal und vertikal durchlässig zu sein hat; Aufhebung des unmenschlichen Zeit- und Leistungsdruckes durch eine adäquate Studienorganisation und Didaktik; Zugang zu selbstbestimmtem Lernen; Aufhebung des Einbahnstrassencharakters der Ausbildung...
Spätestens während des zweiten Streiksemesters 1969 gingen viele Studierende nicht jobben, sondern arbeiteten in Gruppen/informellen Netzen, waren Korrektiv ihrer gewählten Vertreter, machten sich die aktive Mitgestaltung ihrer künftigen Studienwirklichkeit zueigen, verfolgten und begleiteten politische Ereignisse und dachten sich zur Begleitung phantasievolle Aktionen aus. Gleichzeitig waren diese Aktiven oft eine wichtige Relaisstation in der Kommunikationskette aller Interessierter. Von hier gingen vielfach Initiativen für Schulungsaktivitäten und Seminare alternativen Inhalts aus, hier kamen auch Inhalte und Dokumente der '68er Bewegung an, mit der es sonst eher weniger Berührung gab. Praktisch wurden hier massenhaft existentielle Erfahrungen gemacht, die das diametrale Gegenteil der sattsam bekannten Ausbildungswirklichkeit darstellte und insbesondere keine Spielwiese war sondern selbstgestaltete und -kontrollierte Realität. Meine Meinung ist: in dieser Qualität radikaler Alternativerfahrung lag die eigentliche Sprengkraft der Bewegung, fand für eine Generation von 'Musterschülern der Ingenieurschulen' eine Revolution statt, die für sehr Viele lebensprägend war.
Bereits die Vollversammlungen, die letztlich den Streikbeschlüssen vorausgingen, hatten sehr starke Erlebnisqualität: wenn zum erstenmal praktisch Alle da sind; wenn die bekannten Repressionsstrukturen und -figuren nicht oder kaum in Erscheinung treten, jedenfalls nicht als Machtträger in Erscheinung treten (können); das Erlebnis kollektiven Verstehens; die nie da gewesenen Ergebnisse spontaner Geldsammlungen; das Erleben erster Formen des politischen 'Wir', das gleichzeitig die repressive Einzelerfahrung in ihrer Totalität aufzuheben beginnt; das Begreifen vernünftiger, nachvollziehbarer und aneignungsfähiger Argumente und Ideen für eine alternative Studienzukunft, für ein befreiendes Lernen und gleichzeitig gegen die Irrationalität des bestehenden Systems, gegen das Gefühl der subjektiven Unfähigkeit angesichts der unaushaltbaren Repression... Oft genug waren die etablierten Studentenvertreter vom Verlauf und den Ergebnissen solcher Vollversammlungen selber völlig überrascht, vielleicht weil ein rein politisches Denken die entfesselten Kräfte nicht begreift....
Man stelle sich vor, was ein Streikbeschluss vor dem geschilderten situativen Hintergrund bedeutet: man verweigert den "bewährten seminaristischen Unterricht", die ungeliebten Dozenten, die 80-Stunden-Woche, die Klausuren, die erzwungene Anwesendheit, die passive Gleichschaltung, die "die-Vier-ist-die-Eins-des-kleinen-Mannes"-Mentalität, die Diktatur des "Es" (Studien- und Prüfungsordnung), die chronische Gastritis, das Unterdrücken subjektiver Wünsche, das Nie-Zeit-Haben, das Konstruktionsbrett vor dem Kopf, die "McKilroy-is-watching-you"-Mentalität, die extreme soziale Isolierung, die ständig wach gehaltene Angst zu versagen, die Unterdrückung subjektiver Interessen auch ingenieurwissenschaftlicher Art... Für die Dauer des Streiks steht man neben der Einbahnstrasse und außerhalb seiner Zwänge mit Pauken und Prüfungsdruck im Namen einer möglichen besseren Zukunft. Es liegt auf der Hand, daß ein solcher Streik mehr ist als ein Lohnstreik im Produktionsbetrieb, eher schon verwandt mit einem betrieblichen Streik um andere Arbeitsbedingungen und betriebliche Strukturen, auf jeden Fall etwas ziemlich Anderes als verhinderte Lehrveranstaltungen an einer Universität... Es liegt auf der Hand, daß ein solcher Streik (-beschluss) in höchstem Maße existentiell ist. Auf der Risikoseite der Waage liegt die totale Infragestellung des bisherigen Horizontes beruflicher Zukunft und die Resultierende aller bisher gebrachten Opfer, praktisch ohne Alternative (Einbahnstrasse), wenn man davon absieht, daß viele auf ihre Berufsausbildung hätten zurückgreifen bzw. nach bestandenen drei Semestern sich als "Techniker" hätten bewerben können. Aber ich glaube, daß auch hier die Sprengkraft zu großen Teilen in dem Erleben der Nichtrepression und dem nunmehr Erlebbaren lag, von denen sehr Viele garnicht (mehr) wußten, wie sich das anfühlen kann. Vielleicht ähnlich wie die zeitweilig zur kulturellen Dauerpraxis entwickelte Übung betrieblicher Fehlzeiten, das sog. Blaumachen, das zwar einerseits dafür sorgte, daß große Teile der Belegschaft schlicht dem Arbeitsprozess nicht zur Verfügung stand und damit eine effektive Form der Verweigerung von Arbeit, Repression, Mehrwertproduktion usw. darstellt, andrerseits ihre eigentliche Sprengkraft und Beliebtheit aus dem bezog, was die Akteure betrieblichen Absentismussses in der betrieblichen Abwesendheit erlebten und erleben konnten! Um wieviel mehr galt das, wenn man die Streikfreizeit dazu nutzte, seine eigene Situation zu verändern (s.o.). Vielleicht fiel deshalb im zweiten Streiksemester der Beschluss des Semesterabbruchs bzw. des unbefristeten Generalstreiks so leicht? Vielleicht wollte man in das alte System nie mehr zurückkehren? Vielleicht war deshalb für viele die Ingnieurschule (unter welchem Namen auch immer) als zentraler und quasi einziger Lebensmittelpunkt nach der gelebten Bewegung nicht mehr zu etablieren?
Diese Seiten der Geschehnisse um die Ingenieurschüler und Vergleichbarer der späten 60er Jahre nicht zu beleuchten, hieße die Geschehnisse ihrer Seele zu berauben. Vom "Druck der Strasse" zu sprechen und von bildungspolitischen Erfolgen und - vor diesem reduktionistischen Hintergrund - von Zufriedenheiten biografischer (?!) Art, scheint mir nicht möglich. Ich hoffe, ich konnte das wenigstens in Ansätzen nachvollziehbar machen. Aber selbst mit den "Erfolgen" bin ich nicht einverstanden. Sie waren beschränkt. Man gab uns angesichts des nicht mehr korrumpierbaren Aktions- und Verweigerungsdruckes und der Beständigkeit der Argumente und Forderungen seitens der Bewegung so ziemlich alles, was möglich war, um uns nicht das geben zu müssen, was man ums Verrecken nicht zulassen wollte: selbstbestimmtes Lernen in einem System horizontal und vertikal integrierten (zumindest) tertiären Bildungswesens ohne Kadettenanstalt-Charakter... Stattdessen gab man uns die Anhebung der Eingangsvoraussetzungen in Form der Mittleren Reife (oder Vergleichbares) plus ein Etwas, das man frei erfindend 'Fachoberschule' nannte (die war natürlich nie gefordert worden), um uns nicht gleiche Eingangsvoraussetzungen für alle Studienangebote im Hochschulbereich geben zu müssen. Man gab uns ein bißchen Durchlässigkeit, aber nicht horizontal: das Ing.examen wurde für universitäre Studiengänge dem Abitur und fachspezifisch dem universitären Vordiplom gleichgestellt, wobei hier noch föderative Unterschiede zu beachten waren. Man gab uns an einigen Orten etwas, was sie "Gesamthochschule" nannten, aber nicht anderes als ein Programm zum Abbau der Verwaltungskosten und Vereinfachung von Strukturen war. An den Studiengängen wurde mancherorts anfangs etwas gearbeitet (unter Einbeziehung eines Teils des aktiven Studentenpotentials und damit ihre Kräfte bindend), Praxissemester wurden integriert, die Ausbildungszeit dadurch auf acht Semester "angehoben". Die Dozenten wurden in die C-Besoldung übernommen und durften sich nunmehr mit dem Professorentitel schmücken, die Absolventen erhielten den Titel 'Diplomingenieur (grad.)' oder 'Diplomingenieur (FH)', damit man stets den feinen Unterschied präsent habe... und ähnliche formal-strukturelle Aufräumungsarbeiten in der Hochschullandschaft...
Aber der wesentliche Charakter der nunmehr Fachhochschulen geheißenen Ingenieurschulen ist in Wirklichkeit erhalten geblieben. Im Gegenteil, wesentliche Mechanismen dieses "besonders geglückten" Ausbildungstyps wurden im Zuge der faktischen Privatisierung weiter Bereiche verwertungsinteressenbehafteter Bereiche deutscher Universitäten in Lehre und Forschung übernommen und der Industrie faktisch ein dominanter Einfluss eingeräumt. Die an den Universitäten etablierten Ordnungsmittel unterscheiden sich nicht mehr sehr wesentlich von denen der FHn. Praktisch wurden die Universitäten mehr in die Mechanismen der FHn integriert als die FHn in die Universitäten. Die "akademische Freiheit" (Art. 5.3 GG!) beginnt auch hier in Elementen erst auf der Promotionsebene, soweit der starke staatliche Rückzug in der Forschungsfinanzierung zugunsten der "Drittmittelgeber" dieses zuläßt.
Dies ist natürlich keine vollständige Aufzählung der bildungspolitischen "Errungenschaften" einer interpretativ-reduziernden Bewertung á la Kahlert. Sie soll lediglich verdeutlichen, daß ich mich "biografisch" nicht auf dem Erreichten ausruhen mag, wenn es um die statusinteressenorientierte Interpretation bildungspolitischer "Erfolge" eines ehemaligen Dozenten Kahlert geht, der lange Jahre aktives Mitglied der Studienkommission der Evangelischen Studentengemeinden und somit Mitinitiator von Arbeitsergebnissen und Gedanken war, die der Bewegung der Ingenieurstudenten so wichtig wurde, was er uns in seiner Darstellung genauso verschweigt wie er die zentralen Schriften nicht nennt, die er wie ich als Mitautor im Rahmen der Arbeit dieser Kommission verfasste und beschloss und die eine so zentrale Bedeutung in der aufkeimenden Ingenieurstudentenbewegung hatten. Dieser Mittäterschaft am "Druck der Strasse" hätte er sich zumindest nicht zu schämen brauchen. Allein, diesen wesentlichen Teil der deutschen Bildungsgeschichte wenigstens in Ansätzen dem Vergessen entrissen zu haben, ist ein nicht wegzudiskutierendes Verdienst.
Bremen, im April 2004
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