Jürgen Zimmerer

 

Die historische Genozidforschung versucht, typische Züge des Ungeheuerlichen zu bestimmen: Zum Stand ihrer Debatten

Nie zuvor in der Geschichte wurden so viele Menschen allein aufgrund ihrer ethnischen Zuschreibung ermordet. Kambodscha, Ruanda, Bosnien, in Verbindung mit dem Vorwurf des Genozids stehen diese Namen für namenloses, unvorstellbares Grauen. Männer, Frauen und Kinder wurden ermordet, nur weil sie einer bestimmten Gruppe von Menschen angehörten, weil beschlossen wurde, daß sie in einer bestimmten Gesellschaft oder in einem bestimmten Territorium kein Lebensrecht hätten. Die Nationalsozialisten und die Roten Khmer, die indonesische und die serbische Regierung haben gezeigt, daß Völkermord als (bio-)politisches Instrument existiert und, noch schlimmer, daß es auch praktikabel ist. Genozid ist zu einer ernsthaften politischen Option für Machthaber in der heutigen Welt geworden, ja liegt vielleicht sogar im Zentrum unserer derartigen kulturellen Krise, wie Eric D. Weitz meint. 

Urheber des Begriffs "Genozid" war der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin, der in seinem Exil in den Vereinigten Staaten aus seinen persönlichen Erfahrungen mit den nationalsozialistischen Verbrechen und seinen durch Studium erworbenen Kenntnissen des türkischen Massenmordes an den Armeniern im Ersten Weltkrieg zu einer wichtigen Erkenntnis gelangt war: Bestimmte Fälle von Massengewalt ließen sich nicht mit den bisherigen Instrumentarien des internationalen Strafrechts fassen, geschweige denn ahnden. Deshalb schuf er einen neuen Begriff: Genozid, zu deutsch: Völkermord. Darunter verstand er, wie er in seiner grundlegenden Studie "Axis Rule in Occupied Europe" (1944) schrieb, "die Zerstörung einer Nation oder einer ethnischen Gruppe". 1948 fand seine Definition Eingang in die UN-Völkerrechtskonvention. 

Sie definierte Völkermord als "eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; b) Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden an Mitgliedern der Gruppe; c) vorsätzliches Auferlegen von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe". 

Diese Definition stellte einen Kompromiß dar, fiel in den Verhandlungen doch beispielsweise der Hinweis auf politische Einstellung oder Klassenzugehörigkeit als Kriterium den diplomatischen Rücksichtnahmen zum Opfer. Andernfalls hätte die Sowjetunion nicht zugestimmt. An Kritik an der Definition vor allem von wissenschaftlicher Seite mangelte es deshalb nicht, und nahezu jeder, so Eric Weitz, der sich mit der Definition beschäftigte, monierte Lücken und Unzulänglichkeiten. Diese definitorischen Schwächen waren jedoch nicht dafür verantwortlich, daß die Genozidkonvention jahrzehntelang kaum strafrechtliche Wirkung erzielte. Die Staaten pochten auf ihre Souveränität in ihren "inneren Angelegenheiten", und im Kalten Krieg prangerte man nur die Verbrechen des jeweiligen Gegners an. Wie zuletzt Samantha Powers in ihrer mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Studie betonte, wurde noch der Völkermord in Ruanda, bei dem in nur dreizehn Wochen zirka 800 000 Tutsi hingeschlachtet wurden, von der internationalen Gemeinschaft und ihren Vertretern geflissentlich ignoriert. Fast zwanghaft vermied man in den Regierungssitzen von Washington bis Paris, von einem Völkermord zu sprechen und sich somit selbst moralisch zum Eingreifen zu verpflichten. 

So dauerte es auch ein halbes Jahrhundert, ehe der Plan, einen Ständigen Internationalen Gerichtshof einzurichten, der auch Völkermorde ahnden sollte, Wirklichkeit wurde. Tribunale für einzelne Genozide, wie sie mittlerweile etwa für die Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien oder in Ruanda eingerichtet worden sind, zeigen dennoch, daß die völkerrechtliche Ahndung seit 1948 nicht völlig vergebens war. 

Das Verhalten der europäischen und der amerikanischen Regierungen angesichts des Mordens in Ruanda beweist jedoch paradoxerweise gerade auch, welche moralische Kraft der Vorwurf des Genozids mittlerweile besitzt, denn hätte Clinton, Kohl oder ein anderer Politiker das Vorliegen eines Völkermordes konstatiert, hätte er eine Intervention wohl nicht mehr vermeiden können. Die Bedeutung des Genozidvorwurfs und sein Einfluß ruhen nicht primär auf dem Recht, sondern auf dem moralischen Kapital, das sich mittlerweile mit ihm verbindet. 

Wer sich darauf beruft, besitzt ein starkes moralisches Argument, gehört Genozid doch zu den wenigen global verständlichen historischen Chiffren. Seine Geschichte ist dabei aufs engste verbunden mit dem Holocaust, seiner Verarbeitung und Erinnerung, sind es doch die Bilder von Auschwitz und Treblinka, mit denen Völkermord im globalen Vorstellungshaushalt der Menschen verbunden ist, von vielen werden die Begriffe als Synonyme benutzt. Deshalb wirkten die Bilder aus dem ehemaligen Jugoslawien, in denen abgemagerte Menschen hinter Stacheldraht gezeigt wurden, derart aufwühlend, während sowohl das langsamere "Auslöschen" der Bevölkerung Ost-Timors wie die beschleunigtere, scheinbar atavistische Raserei der von der Regierung aufgestachelten Mörderbanden Ruandas diese Aufmerksamkeit nicht erzwingen konnten. 

Mit der wachsenden Bekanntheit des Begriffspaares Genozid/Holocaust wurde jedoch die Vorstellung des damit verbundenen Verbrechens immer vager. Mittlerweile wird es auf ökologische Probleme ebenso angewendet wie auf ökonomische Krisen. So kann man etwa vom "Umwelt-Holocaust" lesen oder vom "Holocaust auf deinem Teller" als Plädoyer gegen Tiermast. Selbst Politiker benutzen die Terminologie, um ihre eigenen bescheidenen Managementleistungen in den Rang eines heroischen Kampfes gegen den Weltfeind zu erheben. So sprach der australische Premierminister Howard etwa vom "wirtschaftlichen Holocaust" und meinte damit die Wirtschaftskrise Ende der neunzigre Jahre, in dem sich sein Land gut behauptet habe. Daß es gerade seine Regierung ist, die im derzeit tobenden australischen Historikerstreit vehement dagegen vorgeht, daß der Begriff des Genozids auf die australische Geschichte angewendet wird, da sie dies als unzulässige Übertragung empfindet, entbehrt also nicht der Ironie. 

Auch auf immer mehr Massenverbrechen finden die Begriffe Genozid und Holocaust Anwendung. Vertreter verschiedenster Opfergruppen hoffen so, die weltweit herrschende Empörung über das Schicksal der Juden im Dritten Reich dazu nutzen zu können, auch der eigenen Sache Gehör zu verschaffen, einer Empörung, die es beispielsweise für koloniale Massenverbrechen in diesem Umfang nicht gibt. Man kann vom "American Holocaust", vom "American Indian Holocaust", vom "Black Holocaust" oder vom "Herero Holocaust" lesen. So ist beispielsweise in der Klageschrift, welche Vertreter der Herero im September 2001 gegen die Bundesrepublik Deutschland und zwei deutsche Unternehmen einreichten, davon die Rede, die beklagten Firmen hätten "in einer brutalen Allianz mit dem Deutschen Kaiserreich unbarmherzig die Versklavung und die völkermörderische Zerstörung des Herero-Stammes in Südwestafrika betrieben" und dabei "mit eiskalter Präzision den unaussprechlichen Horror des Holocaust nur wenige Jahrzehnte später" vorweggenommen. 

Die Gleichsetzung von Holocaust und Genozid blieb nicht unwidersprochen. Vor allem die Andeutung eines inhaltlichen Zusammenhanges zwischen früheren oder späteren Massenmorden und dem Holocaust stieß auf Kritik, und dies von ganz unterschiedlicher Seite. Mit am beunruhigendsten wurde der Hinweis auf genozidale Tendenzen im Kolonialismus empfunden, wie sie global von Australien bis Amerika diskutiert werden. Sie erhöhten nämlich nicht nur die Anzahl möglicher Völkermorde drastisch, sondern die These von den auf Völkermord gegründeten Siedlerkolonien stellte auch die immer noch weitverbreitete Annahme in Frage, die Europäisierung der Erde sei ein Projekt des Fortschritts gewesen. Vor allem in ehemaligen Siedlergesellschaften selbst ist eine Anerkennung kolonialer Völkermorde sehr schwierig, würde diese doch genau das Bild von der Vergangenheit untergraben, auf dem die jeweilige nationale Identität aufgebaut ist. Deshalb fällt es Premier Howard so schwer, den Völkermord an den Aborigines anzuerkennen, und deshalb konnte sich Präsident Clinton mittlerweile in Afrika für die Verbrechen der Sklaverei entschuldigen, in den Vereinigten Staaten wird ihr aber ebenso wie der Ausrottung der Indianer das offizielle Gedenken versagt. Und auch der deutsche Bundespräsident Roman Herzog verweigerte bei seinem Besuch in Namibia im Jahre 1998 die geforderte Entschuldigung für den Völkermord an den Herero und Nama. Auch paßt der genozidale Ursprung nicht ins Bild von der moralischen Überlegenheit des Westens, der weitgehend deckungsgleich mit den ehemaligen Kolonialmächten und den früheren Siedlerkolonien ist. Es gehört in diesen Zusammenhang, daß Samantha Powers mit großer Verve die Vereinigten Staaten anklagt, sich bei vielen Genoziden als passiver Zuschauer verhalten zu haben, ihr aber, wie Ben Kiernan bemerkte, offenbar nicht in den Sinn gekommen sei, daß die Vereinigten Staaten selbst Mittäter gewesen oder sogar auf genozidalen Ereignissen gegründet sein könnten. 

Vehemente Kritik an der Ausweitung des Begriffspaares Holocaust/Genozid regte sich auch von seiten der Opfer des Holocaust und ihrer Nachkommen. Für viele stellt die Tatsache, Opfer des ersten - manche sagen, des einzigen - Genozids gewesen zu sein, einen wichtigen Bestandteil der Verarbeitung der traumatischen Erfahrungen zwischen 1933 und 1945 dar. Wie Dirk Moses im Rückgriff auf die Thesen Émile Durkheims bemerkte, äußerte sich das Trauma des Holocaust bei Überlebenden in einer Sakralisierung der Opfer, konnte die Ungeheuerlichkeit des erfahrenen Verbrechens doch nur so ansatzweise mit Sinn erfüllt werden. Der Sakralisierung der jüdischen Opfer korrespondiert jedoch die Profanisierung der übrigen Opfer, sowohl der nationalsozialistischen Untaten als auch der anderer Massenverbrechen. Das schließt im einzelnen durchaus die Anerkennung des Leides anderer Gruppen und Individuen ein - ein wichtiger Punkt gegen die von manchem Kritiker vorgebrachten Vorwürfe der mangelnden Sensibilität gegenüber nichtjüdischen Opfern -, für eine vergleichende Genozidforschung bedeutet dies jedoch ein Handicap, verhindert es doch einen Vergleich: Das Sakrale und das Profane sind nicht zu vergleichen. 

Stärke und Schwäche des Genozidbegriffes liegen also sehr eng beieinander. Wer mit Genozid als Konzept operiert, betont die Möglichkeit des Vergleiches. Vertreter der Singularitätsthese lehnen einen derartigen Genozidbegriff ab, jedoch stellt das Bestehen auf der "Unvergleichbarkeit des Holocaust" diesen nicht nur "außerhalb der Geschichte" (Eric Weitz), sondern macht die vergleichende historische Genozidforschung auch obsolet. Sie kann schließlich den Holocaust als den in vielerlei Hinsicht paradigmatischen Genozid nicht aus ihrer Untersuchung ausklammern oder ihm von vornherein einzigartige Merkmale zubilligen, ohne sich selbst in Frage zu stellen. 

Vielmehr setzt die vergleichende historische Genozidforschung, ausgehend von der Einsicht, daß "die Idee und die Praxis von Genozid höchstwahrscheinlich so alt ist wie die Idee und die Praxis von Krieg" (Omer Bartov), darauf, daß der Vergleich eine konzentrierte Suche nach den Ursachen, nach den jeden Völkermord vorbereitenden Traditionen und den ihn unterstützenden mentalen Strukturen ermöglicht. 

Umstritten ist aber schon die Liste der als Genozid anzusehenden Massenmorde. Frank Chalk und Kurt Jonassohn, die 1990 mit ihrem Sammelband "The History and Sociology of Genocide" das seit Lemkin einflußreichste Buch zur historischen Erforschung von Völkermord vorlegten, spannten einen breiten Bogen von der Antike bis zur Gegenwart. Die neuere Forschung konzentriert sich stärker auf das zwanzigste Jahrhundert, wird Genozid doch zunehmend als modernes Verbrechen konzipiert. Was in Zygmunt Baumans Studie über "Modernity and the Holocaust" (1989) vor allem auf die Ermordung des europäischen Judentums konzentriert war, findet sich auch auf andere Fälle ausgedehnt. Dahinter steckt die Einsicht, daß Rasse und Nation oder Rasse und Raum den Völkermord bedingende Faktoren darstellen. 

Eine gewisse idealtypische Bündelung historischer Ereignisse ist dabei nicht zu vermeiden, könnte doch die Verlaufsform der Genozide allein seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges unterschiedlicher kaum sein: Spielte sich beispielsweise der staatlicherseits angeordnete Völkermord in Ruanda innerhalb von nur dreizehn Wochen ab, wurde die katholische Bevölkerung der ehemaligen portugiesischen Kolonie Ost-Timor unter indonesischer Besatzung in einem weit langsameren genozidalen Prozeß systematisch dezimiert. Was Ruanda und Kambodscha, Ost-Timor und Bosnien, den Holocaust und Armenien neben der massenmörderischen Intention verbindet, ist die staatliche Urheberschaft und die aktive Beteiligung staatlicher Organe am Mord. Dem eigentlichen Mord vorgeschaltet war immer ein Prozeß der Definition, der Inklusion und Exklusion: Es wurde bestimmt, wer zur Gruppe der potentiellen Opfer gehörte, zugleich wurden diese enthumanisiert, um so eine mögliche Identifikation zwischen dem Täter und dem Opfer zu verhindern. Sie wurden außerhalb der Sphäre der moralischen Verantwortung gestellt (Helen Fein), aus der Gruppe derer verbannt, welche die Gruppenmitglieder zu beschützen verpflichtet sind. Rassismus bereitet dafür den Boden, reicht wohl aber nicht aus, bestimmte auf eine Nation oder ein bestimmtes Territorium gerichtete Homogenitätsvorstellungen müssen hinzukommen. 

Viele Wissenschaftler definieren Genozid als Staatsverbrechen. Im Hintergrund steht dabei das ikonographisch verfestigte Bild der staatlich betriebenen "Endlösung der Judenfrage" und eines bürokratisch organisierten und in den Konzentrationslagern gleichsam industriell vollzogenen Massenmordes. Unabhängig davon, daß die neuere Forschung zum Holocaust an Stelle des Führerbefehls zum Judenmord stärker auf die Bedeutung lokaler Entscheidungszentren verweist und auch der genaue Blick auf das Verhalten der deutschen Besatzer im Osten den Blick auf Massenerschießungen und Brutalitäten unvorstellbaren Ausmaßes freigibt, hat diese Vorstellung den unmittelbaren Vergleich mit Genoziden, vor allem solchen, die außerhalb Europas stattfanden, erschwert. Denn diese Art staatlicher Einmischung und Durchführung ist in früheren Jahrhunderten, etwa bei den Massenmorden im kolonialen Kontext, seltener zu finden. 

Das bedeutet jedoch nicht, daß der Staat als Täter auszuschließen ist. Legt man nämlich statt eines idealtypisch am modernen Staat orientierten Staatsbegriffs einen historischen zugrunde, so erscheinen die Unterschiede nicht mehr so groß. Der koloniale Staat war zum großen Teil ein vormoderner, eben noch nicht oder nicht vollständig bürokratischer Staat, sondern stark von intermediären Gewalten geprägt. Um im kolonialen Kontext ein Staatsverbrechen zu konstituieren, muß die Befehlskette nicht bis in die koloniale Zentrale, die aus den Kolonien ja letztendlich nach Europa führt, zurückreichen. Dies ist eine Erkenntnis, die es angesichts des Staatszerfalls in Teilen der Dritten Welt zu beachten gilt. 

Was vermag nun die Erforschung beispielsweise der Völkermorde in den Siedlerkolonien für das Verständnis der nationalsozialistischen Verbrechen zu leisten? Sicherlich lassen sich diese nicht einfach auf die Tradition des europäischen Kolonialismus zurückführen, dazu war der Nationalsozialismus selbst zu komplex und zu ekklektisch in Ideologie und Politik. Dennoch handelt es sich dabei im Sinne einer Archäologie der Bevölkerungsökonomie und des Genozids um einen wichtigen Vorläufer. Selbst die Ermordung der Juden, die sich auf Grund des Motivs - die Vorstellung einer jüdischen Weltverschwörung - von anderen Genoziden abhebt, wäre wohl nicht möglich gewesen, wenn der ultimative Tabubruch, zu denken und danach zu handeln, daß andere Ethnien einfach vernichtet werden können, nicht schon früher erfolgt wäre. In dieser Tradition genozidalen Denkens nimmt der Kolonialismus auch deshalb einen so herausgehobenen Platz ein, weil die Entdeckung, Eroberung, Erschließung und Besiedelung der Welt positiv besetzt war, popularisiert wurde und eine Vorbildfunktion besaß. Die Ähnlichkeit zum Kolonialismus hilft zu verstehen, warum die Vertreibung und Umsiedlung von Juden und Slawen und in letzter Konsequenz deren Ermordung vielleicht gar nicht als Tabubruch wahrgenommen wurde. Zumindest bot die Kolonialgeschichte im Sinne einer Selbstexkulpation der Täter die Gelegenheit, sich über das Ungeheuerliche der eigenen Taten hinwegzutäuschen. 

Der nationalsozialistische Genozid an den Juden hilft aber wiederum zu verstehen, wie etwa aus der Ausgrenzung einer bestimmten Gruppe von Menschen zur politischen Mobilisierung eine Dynamik entsteht, in der aus verschiedenen Entscheidungszentren Impulse zum Völkermord kommen. Den Mördern muß nicht immer nur befohlen sein, sie können auch "dem Führer entgegenarbeiten" wollen (Ian Kershaw). Indem man ein derartiges Modell dezentraler Entscheidungen nun auch an Beispielen wie Ruanda testet, könnte nicht nur einiges zum Verständnis dieses Massenmordes geleistet werden, sondern auch allgemeine Bedingungen identifiziert werden, die wiederum der Prävention dienen könnten. Dieses Ziel schwingt bei der vergleichenden historischen Genozidforschung aber doch immer mit, weder bedeutet ein komparatistischer Zugang eine Leugnung historischer Spezifika - alle Fälle von Völkermord oder von gesellschaftlich oder staatlich organisiertem Massenmord sind in wichtigen Punkten singulär - noch eine moralische Bewertung oder gar ein gegenseitiges Aufrechnen von Opferzahlen. 

Der Autor lehrt Neuere Geschichte an der Universität Coimbra.

Weiterführende Literatur:

  • Hans-Lukas Kieser/Dominik J. Schaller (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah, Zürich 2002.
  • Mark Levene (Hg.): Plumbing the Depths: Issues and Problems in Current Genocide Research [= Patterns of Prejudice, 36 (2002) 4].
  • Alison Des Forges: Kein Zeuge darf überleben. Der Genozid in Ruanda, Hamburg 2003.
  • Robert Gellately und Ben Kiernan (Hg.): "The Specter of Genocide. Mass Murder in Historical Perspective", Cambridge 2003.
  • Steven L.B. Jensen (Hrsg.): Genocide: Cases, Comparisons and Contemporary Debates (The Danish Center for Holocaust and Genocide Studies), Copenhagen 2003.
  • William A. Schabas: Genozid im Völkerrecht, Hamburg 2003.
  • Eric D. Weitz: "A Century of Genocide. Utopias of Race and Nation", Princeton 2003.
  • Dominik J. Schaller,/ Boyadjian Rupen/ Hanno Scholtz/Vivianne Berg (Hrsg.): Enteignet-Vertrieben-Ermordet. Beiträge zur Genozidforschung, Zürich 2004.